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Frannys
Weg -
Wenn die Erde ein Kind verliert,
gewinnt der Himmel einen Engel
(Buchtitel des hier
gekürzt vorliegenden Beitrages)
Willkommen
im Himmel -
»Sterben
heißt doch nicht gleich tot-gehen!«
Ich
bin angekommen.
Ich
heiße Franny, und auf der Erde war ich genau fünfzehn
Jahre und zwei Monate. Jetzt bin ich im Himmel gelandet.
Genau genommen dahinter – in dem unendlich weiten
Himmelszelt. Ich nenne es die „Wohnung vom lieben
Gott“ – und natürlich all der Seelen, die auch ihr
Zuhause hier haben. Es ist sicherlich die größte Wohnung
der Welt, mit dem größten Fenster überhaupt – aus dem
man die ganze Erde auf einmal erblicken kann.
Für
euch klingt das bestimmt weit weg, dabei bin ich nur einen
einzigen Gedanken von euch entfernt! Gedanken ziehen
einander an. Nur wer vergisst, wird sich entfernen. Es ist
schön für jeden, wenn man nicht aufhört mit dem
Denken-an. Daher kommt sicher der Begriff An-denken.
Ihr
da unten spaziert täglich unter einem Himmel voller
Seelen. Eine von ihnen gehört mir. Wie schön es ist, plötzlich
nach unten zu schauen. Ich brauche mir den Hals nicht mehr
zu verrenken und kann auch viel mehr sehen. Spannender und
bunter ist es auch. Die Frage, wie es wohl hinter dem
Himmel aussieht, brauche ich nicht mehr zu stellen.
Ich
habe Angst gehabt. Anfangs. Ich wusste ja, dass da kein
Prinz kommen und mich wach küssen würde; ich bin ja
nicht Schneewittchen. Mein Leben war kein Märchen mit
Happyend. Aber es war happy – bis ich über das Ende
nachdenken musste.
Stattdessen
bin ich jetzt hier oben, und der liebe Gott und seine
Engel haben mich wach geküsst. Ich bin von so vielen schönen
Dingen umgeben: dem Himmel, den Sternen, dem Regenbogen,
den Wolken. Von der Erde aus nimmt man das alles ganz
anders wahr, als wenn man wie ich von ganz oben alles
betrachten kann.
Seit
fünf Monaten bin ich hier, und auf meiner Reise in den
Himmel musste ich durch dieses Dazwischen, das für
jeden Menschen ein Geheimnis bleibt, solange seine Füße
die Erde ablaufen.
Ich
habe endlich das, was ich so lange, genau wie viele
andere, als wahres Geheimnis empfand, als so ein
„komisches, ungewisses Etwas“ bezeichnen, gelüftet.
*
Als
ich acht Jahre alt war, saßen Mama und Papa eines Abends
an meinem Bett. Ich hatte den ganzen Tag über
Bauchschmerzen gehabt und Mama füllte meine Herzwärmflasche
schon zum zigsten Mal mit warmem Wasser. Das fühlte sich
so gut an. „Franny, du hast uns gefragt, warum es dir
manchmal so schlecht geht, und warum du so oft zum Arzt
musst. Also –“. Mama verstummte. Nach einem Moment
sprach Papa dann weiter. „Also, Franny, das kommt
daher…“ Ich merkte, wie Papa tief schlucken musste.
„Weißt du, jeder Mensch hat einen Stoffwechsel. Der
Stoffwechsel steht für die Aufnahme, den Transport und
die Umwandlung von Stoffen in deinem Körper, und er sorgt
für die Abgabe von Stoffwechsel-Endprodukten. Das alles
ist sehr wichtig, nämlich für den Aufbau und die
Erhaltung der Körpersubstanz und –„ Papa blickte zurück
zu Mama. „Und der richtigen Körperfunktionen.“ Ich
schloss meine Augen und dachte laut nach. „Und bei mir
funktioniert der Stoffwechsel eben ein bisschen anders?“
An
dem Abend holten mich Mama und Papa in ihr Bett und ich
durfte die ganze Nacht zwischen ihnen liegen. Genauso wie
zu Zeiten, als ich klein und richtig krank war, also
Masern oder Grippe oder so hatte. Ich wusste nicht, dass
ich jemals viel schlimmer krank sein könnte. - Auch meine
Schwester Jessi liebt es, krank zu sein. Krank zu sein heißt
nämlich, in Mamas und Papas Bett schlafen zu dürfen.
Mama
und Papa haben mir das mit dem Stoffwechsel noch unzählige
Male erzählen müssen, bis ich es irgendwie verstand.
Aber komisch war es trotzdem. Ich hatte zwar endlich eine
Erklärung bekommen für meine Übelkeit und meine
Schmerzen, die ich immer öfter hatte, aber ich hatte nun
auch noch Angst dazu bekommen. Plötzlich war einfach
jemand anders der Chef über meinen Körper. Ein ganz
mieser Chef. Und sein Name klingt auch so blöd: Herr oder
Frau Mukoviszidose. Ich habe mir meinen Körper von innen
vorgestellt und musste weinen.
*
„Kann
ich daran sterben? Ist das ansteckend, was ich habe?“
Gleich am nächsten Morgen hatte ich Mama und Papa mit der
Frage geweckt. Ich wollte sie schon viel früher fragen,
aber ich wollte sie auf keinen Fall wecken. Ich blieb
lange wach und hatte sie gern beobachtet, während sie
tief schliefen. Ob sie viel von meiner Schwester und mir
träumten?
„Ach,
Liebling, man stirbt nicht immer gleich an jeder
Krankheit! Und ansteckend bist du überhaupt nicht!“
Damit war das Thema vorerst für mich gestorben.
Gestorben? Ich muss da jetzt ein bisschen drüber
schmunzeln, wie ich das Wort benutzt hatte.
Für
Mama war das Thema also erst einmal vom Tisch. Aber für
mich nie mehr. Nicht, so lange ich lebte. Und das wollte
ich!
Ich
hatte natürlich schon Angst, dass die Krankheit
vielleicht doch so gemein zu mir sein könnte und ich würde
wegen ihr sterben und nicht alt werden. Immer mehr Fragen
tauchten in meinem Kopf auf. Aber ich merkte, wie mir Mama
und Papa nicht mehr auf alles eine Antwort geben konnten.
Sie konnten auch nicht mehr in einem ihrer schlauen Bücher
nachschlagen, wie sie es sonst immer taten. Ich
hatte einfach zu viele Fragen, und sie einfach zu wenige
Antworten. „Liebling, wir wissen noch nicht sehr viel über
diese Krankheit.“
*
Es
war mein Kinderarzt, Dr. Brenz, der mir zum ersten Mal
ganz genau erklärte, was da eigentlich mit meinem
Stoffwechsel los war. Er gab mir aber dabei das Gefühl,
etwas ganz Besonderes zu sein; wohl, um mich auf seine Art
zu trösten. Anfangs dachte ich wirklich, ich sei die
Einzige auf der Welt, die so einen kranken Stoffwechsel hätte.
Dann habe ich gehört, dass in Deutschland 5.000 Menschen
auch so etwas haben, und man tatsächlich daran sterben
kann. MUKOVISZIDOSE hieß also meine Krankheit. Ich nannte
den kleinen Teufel in mir fortan MUKKI. Man wird mit Mukki
schon geboren. Ob der sich in mich eingenistet hatte, als
ich noch in Mamas Fruchtblase schwamm? Wenn ich vorher
gewarnt worden wäre, wäre ich dann freiwillig auf die
Welt gekommen? Ich glaube heute, JA! MUKKI hat mich ja
nicht daran hindern können, viel zu sehen, zu erleben und
zu fühlen. Er hat mich ja auch fast mein halbes Leben
lang in Ruhe gelassen!
*………………………………………………………..
Ich
habe mir immer wieder vorgestellt, wie es sein würde,
tatsächlich nicht mehr da zu sein; nie mehr beide Füße
auf die Erde setzen zu können, um die Welt abzulaufen.
Irgendwann die Welt nur noch von oben zu betrachten –
eine komische Vorstellung und ein noch komischeres Gefühl.
Und eigentlich auch überhaupt nicht vorstellbar. Also,
man kann sich ja eigentlich fast alles vorstellen, aber
nicht mehr zu leben, das war einfach unmöglich. Ich habe
es nie geschafft, mir vorzustellen, ich wäre nicht.
Manchmal spielte ich, ich sei jemand anderes und
betrachtete mich als eine Freundin von außen. Und diese
Freundin müsste nun sterben. Dann hätte ich Mitleid und
war traurig, aber ihr Sterben konnte ich nicht fühlen.
– Oh, das Spiel war schwer. Und eigentlich war es auch
total unsinnig! Aber was tut man nicht alles, um seine
Angst ein bisschen kleiner zu machen. So, dass man sie
nicht mehr fühlt.
Und
dabei wird sich diese Welt trotzdem immer weiter drehen.
Die Welt hat einfach den längsten Atem. Und sie bleibt
auch nicht kurz stehen, nur weil da plötzlich einer
fehlt. Sie dürfte sich dann gar nicht mehr drehen, denn
in jeder Sekunde verlässt irgendwo ein Mensch die Erde.
Warum
hat eigentlich nie jemand den Tod überlebt oder überlistet,
oder ist zurückgekommen? Und ich bin sicher, dass es in
all den Millionen von Jahren immer wieder mal jemand
versucht hat. Und gewollt haben es sicher fast alle. Da
sind Technik und Wissenschaft so weit, da erfindet man die
schlauesten Geräte, aber niemand erfindet Ersatzteile für
einen kaputten Körper? Wieso gibt es keine Überlebensmaschine?
Oder kein Lebens-Verlängerungsgerät? Warum kann niemand
meinen Stoffwechsel einfach austauschen? Warum kann nicht
jeder so lange leben, wie er will? - Aber es wäre wohl
schrecklich langweilig, wenn es keinen Anfang und kein
Ende gäbe. Und die Erde hat ja auch wirklich nicht genügend
Platz. Papa sagt, die Erde wird immer kleiner. Wir machen
die Natur kaputt, in der Mensch und Tier leben könnten.
„Nicht
mehr da zu sein, wäre das wie vor meiner Geburt, vor
meiner Zeugung? Ohne Bewusstsein?“, fragte ich Mama. Mit
großen Augen hatte sie mich angesehen. „Weh tun wird es
auf keinen Fall, mein Schatz!“, sagte sie schließlich
und hatte Tränen in den Augen. Ich hatte Begriffe wie Tod
und Sterben endgültig in unser Haus geholt. Traurigkeit
stand nun immer zwischen uns.
*………………………………………
Manchmal
muss ich an die denken, die zwar nicht krank geboren
werden wie ich – die aber krank werden vom Kopf her.
Mama sagt: „Wenn man im Kopf krank wird, wird auch der Körper
bald krank.“ – Wie doof sind die Menschen, dass sie
sich alles kaputt machen! Mama wollte immer, dass ich mit
meinen Sorgen zu ihr komme. „Wenn dich was bedrückt,
lass` es raus, damit du wieder Luft und Raum für Schönes
im Kopf hast. Und Sorgen gehen auf dein Herz. Und ich
will, dass deins noch lange schlägt! Ich will nicht, dass
es kaputt geht von Sorgen, die man ent-sorgen kann! Kopf
und Körper müssen sich vertragen und im Einklang
miteinander leben!“ Mama hat sich da richtig
reingesteigert. Sie hätte eben alles getan, um mir Kummer
zu ersparen oder abzunehmen. Am allerliebsten hätte sie
ihren Körper gegen meinen getauscht. „So einen großen
Busen will ich aber nicht!“ Ich versuchte, sie zum
Lachen zu bringen. „Bitte, Mama, sorge dich nicht so,
das geht aufs Herz, und ich will, dass deins…“ Dann
fiel sie mir ins Wort und nahm mich anschließend meistens
in einen liebevollen Schwitzkasten.
*
Menschen
jeden Alters sterben, ob durch Krankheit, Unfall, oder
weil ihr Motor einfach alt und morsch geworden ist. Ich wünsche
mir, dass gesunde Menschen sehr alt werden können. Also,
gesunde - auch vom Kopf her! Ich wünsche mir, dass junge
und körperlich gesunde Menschen sich nicht einfach
umbringen wollen. Und wenn ihre Seele ein bisschen kaputt
ist, dass sie sich ganz schnell Hilfe holen bei den diesen
„Seelenklempnern“, wie Mama das immer ausdrückt. –
Umgekehrt ist es scheinbar anders: Meine Seele war ja
heil, und nur mein Körper hat Stress gemacht. Das ist
gemein. – Wo sitzt die Seele eigentlich? Wie kann man
sie bloß finden, um sie dann zu reparieren? Es gibt doch
so viele Menschen, die wieder gesund werden. Was ist an
meinem Stoffwechsel so besonders schlecht? Und warum
konnte ich mit so einem denn nicht so alt wie Oma
werden? Wieso konnte ich mich bloß nicht wieder gesund
denken?
*
Also,
hier oben sind die Seelen der Menschen, die freiwillig in
den Tod gingen, nicht direkt zusammen mit denen, die Gott
zu sich holte. Sie können sich noch nicht direkt
miteinander austauschen. Ich weiß aber, dass die meisten
Seelen es bereuen, dass sie sich gegen das Leben
entschieden haben. Es geht ihnen gut hier oben, aber sie müssen
etwas länger auf eine Schutzengel-Aufgabe warten – und
das ist ja der Sinn, wenn man hier herkommt. Erst wenn man
wieder lernt, Verantwortung zu tragen, bekommt man eine
Aufgabe. Wer sich umgebracht hat, konnte ja nicht einmal für
sich selbst Verantwortung übernehmen, als es darauf
ankam. Wie dann also so schnell schon wieder für Andere
oder Anderes? All das weiß ich von Archibald, dem Engelwächter.
*
Einmal,
als Mama und ich beim Zubettgehen kuschelten, stellte ich
ihr eine Frage, die mich schon lange beschäftigt hatte:
„Mami, ob es besser ist, zu wissen, dass man sterben
muss, oder einfach vom Tod überrascht zu werden? Wie ist
es für dich und Papa? Schwerer oder leichter?“ Mama
schwieg lange. Hilflos schaute sie mich an, dann flüsterte
sie: „Es ist egal, wann jemand geht. Es tut immer weh.
Lass uns versuchen, deinen MUKKI einfach zu überlisten!“
Im
Stillen dachte ich, dass es gar nicht schlecht ist, wenn
man weiß, dass man bald stirbt, weil man dann seine Zeit
sicher viel besser genießen und „rest- leben“ kann.
*…………………………………
Klara
war süß. Für sie gab es zwischen gestorben-sein und
tot-sein einen himmelweiten Unterschied: wenn ich
gestorben sein würde, wäre ich kein Stück tot für sie.
Unter Sterben verstand sie „weggehen“, unter tot sein
„ausgelöscht“. „Solange die Erde lebt, die Welt
atmet, bleibst du ein Teil von ihr genau wie ich und jeder
andere!“ Klara machte auch keinen großen Unterschied
zwischen OBEN und UNTEN. Und wir sprachen nicht wirklich
über den größten Unterschied, nämlich dass wir nur
hier UNTEN gemeinsam Abenteuer erleben konnten.
Klara
sagte, wenn sie abends ihr Nachtgebet spreche, solle ich
von oben lauschen – ich könne sie dann bestimmt hören,
wie sie mich in ihre Gebete einschließen würde. Ein
Engel bekommt doch schließlich alles mit! - Oh, wie ich
Klara liebte! Ich würde sie so vermissen. Wir lasen oft
zusammen „Der kleine Prinz“, wenn sie bei mir übernachtete.
Sie war dann mein Prinz, und ich war ihre Rose. Und sie
las mir alle meine Lieblingsstellen vor, immer und immer
wieder. Keiner konnte so schön lesen wie meine beste
Freundin Klara. „Was wichtig ist, sieht man nicht. Das
ist wie mit der Blume. Wenn du eine Blume liebst, die auf
einem Stern wohnt, so ist es süß, bei Nacht den Himmel
zu betrachten. Alle Sterne sind voll von Blumen. Du wirst
in der Nacht die Sterne ansehen.“ Oder: „Was bedeutet
`Zähmen`? – Es bedeutet, sich `vertraut machen`. -
Vertraut machen? – Gewiss, wenn du mich zähmst, werden
wir einander brauchen. Ich werde für dich einzig sein in
der Welt. – Ich verstehe. Es gibt eine Blume …“
Ich
glaube, Klara und ich haben uns auch für immer gezähmt.
*……………………………………….
P.S.:
Und noch eines – wenn du wiedergeboren wirst, komme doch
bitte in meinen Körper. Dann sind wir endlich wieder
beisammen!
Ich
hab` dich lieb, Franny, auf Ewigkeit. Und bis ich dir
eines Tages folge, bleibe ich so-wie-so deine beste
Freundin und du bleibst meine. Das werde ich immer allen
erzählen! Komme da, was wolle! Kuss und 1000 Umarmungen.
Klara.
P.P.S:
Du bist ja Gott jetzt näher als ich, weil du ja bei ihm
wohnst; bis meine Gebete bei ihm ankommen, vergeht
vielleicht ein bisschen Zeit, denke ich. Würdest du ihn
fragen, ob kleine Menschen auch große Seelen haben können,
und große Menschen kleine? Ich bin da nämlich unschlüssig.
Ach, eigentlich ja auch egal. Da oben geht’s doch sicher
allen gleich! – So, KussKuss.
P.P.P.S:
Ich habe ja gesagt, du sollst diese Kassette erst hören,
wenn es dir ganz ganz schlecht geht. Nun habe ich Angst,
dass du es vielleicht nicht mal mehr schaffst, den
Startknopf zu drücken.“
*………………………………..
Ich
habe mal gelesen, dass sich die Menschen den Anfang und
das Ende ihres Lebens insgeheim aussuchen. Und dass sie
vor diesem Leben schon ein anderes gehabt haben. Ich
dachte mir, dass bei der Zeugung eben wirklich nur der Körper
entsteht. Zelle für Zelle. Die Seele kann man nicht
zeugen, sie springt einfach in den Körper. - Das passiert
ganz sicher bei der Zeugung. Oder vielleicht schon davor?
Ohne Seele könnte ein Körper sich gar nicht so
entwickeln, sich gar nicht so zusammensetzen. Klara war da
immer anderer Meinung gewesen: „Die Seele geht bestimmt
erst bei der Geburt in den Körper, weil sie ja in eine
ausgewachsene Hülle schlüpfen muss.“ - Finde ich nicht
so gut. Wenn eine schwangere Frau mit ihrem Baby im Bauch
spricht, es fühlt, dann spricht es doch nicht nur mit
einem Körper!? Und was war mit der Arbeitskollegin von
Papa? Der Körper wäre bestimmt nicht gestorben, sind ja
nur Bausteine, und die können doch nicht denken. Also war
da die Seele, die sich entschlossen hat, wieder zu gehen.
- Als Mama mit Jessi schwanger war, hat Mama gesagt, dass
sie spürt, wie Jessi auf bestimmte Musik besonders
reagierte. Das macht doch nicht der Körper. Dem ist das
doch sicherlich ganz wurscht.
Aber
wenn die Seele in den Körper geht – wo kommt sie dann
her? Vom Himmel? Dann ist der Himmel also wirklich die
Heimat der Seelen. Also geht meine Seele einfach nur
wieder zurück nach Hause, von wo sie einst herbestellt
wurde?
*
Wenn
Mama und Papa sagten, Gott sei der Vater von allem, dann
fragte ich mich wieder - wieso eigentlich nicht die
Mutter? Wer hat Gott denn `männlich` gemacht? - Was auch
immer der Gott für ein Geschlecht hat, ich bin auch sein
Kind, weil ihm ja die ganze Welt gehört. Ich habe also
entweder zwei Mütter oder zwei Väter. Ich denke, Gott
schafft die Seele, und die Eltern den Körper. – Und
wenn Gott die Seele macht, dann kann er ja auch gar nichts
für meinen kranken Körper. Wenn das also so ist, warum
schimpfen alle immer so auf Gott und geben ihm die Schuld
an allem Übel? Wenn man jemandem Schuld gibt, dann ist er
doch stärker. - Ich tue das nicht. Ich hatte eine
Verabredung mit dem Leben. Egal, ob kurz oder lang. Ich
kann wütend werden, jede Sekunde - oder ich kann
versuchen, Danke zu sagen, für jeden Augenblick, in dem
meine Augen sehen, mein Herz empfinden, meine Ohren hören,
mein Mund schmecken und meine Nase Neues riechen durfte.
Danke zu sagen, wenn man eigentlich wütend und traurig
ist, das kostet Kraft, aber es lohnt sich. Ich will schließlich
nicht als miesepetriger Untermieter bei Gott einziehen.
*…………………………………..
Ich
vermisse nichts. Etwas zu vermissen, das kann ganz schön
weh tun. Im Himmel gibt es so was nicht. Im Himmel ist es
so, wie ich das Paradies aus der Bibel verstanden habe.
Und ich kann den lieben Gott fühlen. Ja, ich kann ihn
wirklich spüren. Ich habe am ersten Tag hundert Mal nach
ihm gerufen, bis ich Mamas Worte erinnerte: Der liebe Gott
gibt dir Zeichen – das ist seine Sprache. Er ist noch
leiser als leise, weil er ja keine Stimme hat.
Ich
möchte ihm zurufen, dass ich bei ihm gelandet bin - natürlich
albern, denn er weiß es ja längst. Er hat mich doch
selbst zu sich in sein Reich holen lassen.
*
Schön,
dass ich viele Erinnerungen mitnehmen konnte. So erinnere
ich mich auch an Papas Worte: Gott ist alles. Gott ist der
Himmel und Gott ist die Erde. Und Gott ist das Licht. Gott
ist der Mensch, das Tier, die Blume, jede Wolke, die Luft.
Er ist die ganze Welt. Er ist allmächtig und der Große
Vater von allem, was wir uns erklären und nicht erklären
können, was wir betrachten können, und was für uns
unsichtbar bleibt. Wie er selbst.
Ich
sehe alles und jeden auf der Erde, bin zum ersten Mal größer
als ein Erwachsener! So muss der liebe Gott sich fühlen.
Wie ein allwissender, allsehender, allmächtiger Riese.
Voller Macht - und doch machtlos, wie viele behaupten.
Irren sie? Wenn er allmächtig ist, könnte er die Erde
doch als Mensch besuchen, oder? Viele Menschen schimpfen
auf ihn. Andere glauben nicht an ihn, und einige glauben
nicht mehr an ihn. Und trotzdem suchen sie zu gern nach
einem Schuldigen. Sich selbst die Schuld zu geben ist
anscheinend viel zu schwer. Aber - darf der Schöpfer
wirklich niemals Fehler machen? Glaubt man nicht mehr an
ihn, weil er ein Gebet vielleicht mal nicht erhört, oder
er schlimme Sachen nicht verhindert hat, wo er doch allmächtige
Macht besitzt? Oder nicht? Wer behauptet bloß immer, dass
„allmächtig“ sein heißt, alle Macht der Welt zu
haben? Gibt es tatsächlich keine Einschränkung? Ich
werde es erfahren.
*
Meine
Krankheit liegt im Sarg mit meinem kranken Körper und
meinem Lamm Bruno. Schade, dass ich nicht mal Bruno
mitnehmen konnte, wo er doch all die Jahre mein zweites
Kopfkissen war. Aber so bleibt er bei dem Körper, der ihm
über zehn Jahre hinweg so vertraut war. Gemeinsam geht er
mit der Hülle dann kaputt.
Ich
weiß, Papa würde der Erste sein, der bei der Trauerfeier
den anderen vormachen wird, nach oben in den Himmel zu
winken, nicht nach unten in den Sarg zu weinen. In Indien
zum Beispiel feiert man den Abschied fröhlich. Wie
grausam muss es auch sein, von unten nicht losgelassen zu
werden, während von oben schon gezogen wird? Eine schöne
Vorstellung, dass die Leute einen feierlich gehen lassen können,
damit die Seele einen leichteren Abschied hat.
Wenn
mein kranker Körper in den Sarg gelegt wird, kommt bloß
die kranke Hülle unter die Erde, die der Schutz um meine
Seele war. Nie mehr schleppe ich meine morsche Hülle von
sechsundzwanzig Kilo mit mir herum! Und zum ersten Mal bin
ich frei – meine Seele ist nicht mehr eingesperrt, nicht
mehr gefangen in einem Körper. Meine Seele ist endlich
frei und fliegt in Windeseile hin, wo immer sie hin möchte.
So kann ich die ganze Erde abfliegen. Und so billig reist
doch kein Erdenbürger. Erdenbürger – ich bin jetzt ein
Himmels-Bürger!
*
Ich
habe mit Papa einmal über verschiedene Arten von
Beerdigung gesprochen. Das war schwer für ihn, aber ganz
schön wichtig für mich. Einmal dachte ich nämlich über
Verbrennung nach. Da gab es diesen Film im Fernsehen, und
da feierten die Leute eine Feuerbestattung. Die Menschen
in Indien werden verbrannt, damit die Seele sich von der
sterblichen Hülle befreien kann und in einen Kreislauf
der Wiedergeburten eintreten kann. Sie können dann
einfach noch einmal woanders hinein geboren werden. Sicher
hat Klara den Film auch gesehen, weil sie diese Idee
hatte, ich solle doch in ihren Körper schlüpfen. - Nur,
was passiert dann mit ihrer eigenen Seele? Ob es wohl
Menschen mit mehr als nur einer Seele gibt? - Na,
jedenfalls wurde im Film gezeigt, wie die Asche nach der
Verbrennung in heilige Flüsse gestreut wurde. Das fand
ich toll. Dann wäre mein Körper auch nicht so lange
einsam im Grab, weil ihm die dazugehörige Seele
fehlt. „Bei dem schlagen doch zwei Seelen in der
Brust!“ – das hatte Klaras Mutter einmal wütend über
einen Lehrer gesagt. Schade, dass wir nie nachgehakt
haben, was sie damit meinte. Aber weil sie das wütend
sagte, konnte es nichts Gutes sein.
Nach
dem Film hatte ich plötzlich Angst, dass meine Seele bei
einer Erd-Beerdigung nicht so schnell aus dem Körper
kann. Ich sprach mit Mama und Papa darüber und Papa
sagte, dass die Menschen sich nur in den Religionen, im
Glauben, unterscheiden. Aber Gott ziehe die letzten Fäden
und übersehe keinen, egal ob Asche oder nicht. Und das
Wichtigste: die Seele fliegt ganz sicher davon, kurz
nachdem das Herz den letzten Paukenschlag tat. - Deshalb
öffnen wohl auch alle Krankenschwestern das Fenster, wenn
einer gestorben ist. Hat mir Klaras Tante mal erzählt,
die Pflegerin in einem Altersheim ist. Sie hat auch
gesagt, dass man dem Körper ansieht, wenn die Seele den Körper
verlassen hat. Gestorbene haben ganz schnell eine andere
Farbe. – Ich wünschte, ich würde nicht noch hässlicher
aussehen, als ich mich ohnehin schon empfand.
*
Zum
Vergnügen habe ich in meiner neuen Heimat für alles
Namen erfunden: diese Stadt im Himmel heißt Petrusstadt.
Die dicke Wolke, auf der ich manchmal schwebe und mich
ausruhe, heißt Astra. Sie muss schon ziemlich alt sein,
denn sie schwebt nicht mehr so schnell wie andere. Mein
wichtigster Gefährte hier oben ist Archibald. Er
kontrolliert die Sterne und ist selbst eine Art Engel. Er
muss mal ein ganz besonderer Mensch gewesen sein. Einer
von euch. Er muss schon ziemlich lange hier oben sein. Er
ist nicht ständig present, weil er einen Auftrag nach dem
anderen bekommt.
………………………………………..
EXITUS,
ABFLIEGEN, ABLEBEN, VERFLÜCHTIGEN. - Viel mehr ist dabei
nicht herausgekommen. EXITUS fand ich eigentlich am Schönsten.
EXIT bedeutet doch im Englischen - Àusgang`; das
heißt, dass die Seele (endlich) ihren Ausgang findet; das
Lichtertor ist der Exit. Ich war anfangs sehr aufgeregt,
vor der Klasse Fragen zu beantworten, aber als ich merkte,
dass meine Mitschüler noch viel nervöser waren als ich,
fühlte ich mich ziemlich cool und ziemlich überlegen.
Die schönste Frage kam kurz vor Ende von Manuela: „Würdest
du gern wiedergeboren werden, Franny? Und wenn ja, als
was? Und denkst du, das fühlt sich dann so an wie bei
deiner letzten Geburt? Diese Stunde sollte die vorletzte
gewesen sein, an der ich noch teilnehmen konnte.
*
Beim
Abendbrot habe ich Mama und Papa gefragt, als was sie denn
noch einmal auf die Welt kommen würden, wenn sie es sich
aussuchen könnten. „Also, ich werde ein Chamäleon. Ich
verändere je nach Bedarf meine Äußeres!“ sagte Papa.
Und Mama wollte eine berühmte Sängerin und Autorin
werden. „Also, ich möchte als Gott geboren werden. Und
dann würde ich als erstes dafür sorgen, dass es keine
Krankheiten mehr gibt!“ Über meine Idee musste selbst
ich laut lachen.
……………………………………….
Ich
nahm mir vorm Schlafengehen immer ein Thema vor, von dem
ich träumen wollte: von einem hübschen, großen,
dunkelhaarigen Jungen, weiteren Reisen, einem Job als
Lehrerin und vielem mehr. Ich hatte einfach die
Situationen vorm Auge, bis ich mit den Bildern
eingeschlafen bin. - Manchmal war ich selbst eine Mama und
glücklich verheiratet. Wie Mama. Mama und Papa waren in
meinen Bildern wunderbare Großeltern. Ich bin natürlich
auch Auto gefahren, und auf dem Rücksitz schliefen meine
Kinder. Oder ich tanzte wie wild mit Klara in einer Disko
und wir forderten zum ersten Mal einen Jungen auf. – Ich
habe Dinge und Stationen meines Lebens „geträumt“,
die ich nicht mehr erleben würde. – Manchmal habe ich
mir in weniger als einer Woche ein ganzes Leben erträumt.
– Und das Schönste: ich konnte mir mein Leben
aussuchen. – Ihr dagegen könnt euch nicht auf eure Träume
verlassen, weil Ihr eure Träume gegen die Realität
eintauschen müsst.
*
Einmal
hat Papa mich nachts aus dem Bett geholt und hinaus in den
Garten getragen, weil er mir unbedingt den klaren
Sternenhimmel zeigen wollte. „Weißt du, dass Sterne
hundertfünfzig Mal die Masse unserer Sonne annehmen können?“
Wow, dachte ich. Dann hat Papa unser Fernrohr aufgestellt
und mir die Sternenbilder gedeutet: „Franny, wenn du
dort oben bist, wird ein Stern besonders hell scheinen. Du
wirst zu einem Engel und wirst dann sicher deinen eigenen
Stern haben, der dir leuchtet. Oder du selbst bist ein
Stern. Es heißt ja, jeder Stern sei eine Seele. - Sterne
sind Milliarden von sogenannten Lichtjahren entfernt, und
auch wenn der Himmel voller Sterne hängt, so können wir
doch nur einen Bruchteil von ihnen leuchten sehen – es
gibt nämlich mehr Sterne in der Welt als Sandkörner auf
der Erde!“ Ich war fassungslos. Millionen Sterne,
Lichtjahre, Galaxien, Milchstraße – meine neue Heimat
klang ja ziemlich spannend. Ob die Seele unendlich weit
fliegen kann? Ich wollte doch endlich mal die
„Unendlichkeit“ verstehen.
Papa
flüsterte: „Liebe kennt keine Entfernung, weil Liebe im
Herzen wohnt und auch nicht durch Millionen von Kilometern
Distanz kleiner werden kann.“ - Wie gern hätte ich in
dem Augenblick eine Sternschnuppe gesehen!
„Papa,
wo genau beginnt der Himmel?“
*
Papa
hatte mir und Klara ja „der kleine Prinz“ geschenkt,
und ich erinnerte mich immer wieder an die Stelle mit den
Sternen. „Die Leute haben Sterne, aber es sind nicht die
gleichen. Für die einen, die reisen, sind die Sterne Führer.
Für andere sind sie nichts als kleine Lichter.“ Ich wünsche
mir, jeder würde sich abends „seinen“ Stern suchen
und ihm einen Namen geben. Man kann schon Sterne kaufen,
aber davon will ich nichts wissen. Die Sterne dürfen doch
keinem allein gehören. Sie schenken doch allen ihr Licht!
– Wie kann man etwas kaufen, das einem niemals gehören
kann? Und wer verkauft etwas, das ihm nicht gehört, und
deshalb auch niemals einem anderen?
Mama
– sie hat mir gezeigt, dass nichts umsonst ist, und dass
alles seinen Sinn hat. Dass Menschen sicher nur jung
sterben, damit ihnen etwas Schlimmes erspart bleibt. Und
weil sich die ganz kleine Seele vielleicht in der Zeit
geirrt hat. – Ich war froh, mich nicht geirrt zu haben,
auch wenn ich früher gehen musste. – Und weil große
Menschen von Kleinen so Manches lernen können, müssen
auch die Kleinen manchmal den Großen etwas vormachen.
Ihnen zeigen, dass das, wovor selbst sie solche Angst
haben, gar nicht so schlimm sein muss. Und so gehen eben
auch schon mal Kinder voraus; auch wenn es überhaupt
nichts Schlimmeres gibt, als wenn das eigene Kind schon
vor einem in den Himmel kommt. Wenn man den ersten und den
letzten Schritt des Kindes begleiten muss – das ist
traurig. Aber es muss einen Sinn dafür geben, den man
unten allerdings nicht begreifen wird.
………………………………….
Mama
hatte bestimmt manchmal die Sorge, mein Schlaf würde mich
ihr wegnehmen. Auch ich hatte ja diese Angst, mein Körper
wolle morgens nicht noch einmal aufwachen und einen ganzen
Tag über-leben. Andererseits dachte ich: Ob ich heute
gehe oder morgen - traurig sind sie alle sowieso. Und
dabei wünschte ich mir sehr, dass sie nicht still und
heimlich weinen würden, sich vom Leid nicht auffressen
lassen würden. So wie die Freundin von Mama damals. Wenn
heimliche Tränen im Magen landen, muss das doch krank
machen!
Auf
Erden Trauer, im Himmel Freude. – Wenn die Erde ein Kind
verliert, gewinnt der Himmel einen Engel! Diesen Satz aus
einem Gedicht von Mama mochte ich besonders. Es musste
einfach stimmen, Mama behielt doch immer Recht!
*…………………………………………
Ab
und an legen noch immer ein paar Schulkameraden ein paar
Blümchen vor unsere Haustür. Ich kann auch gemalte
Bilder erkennen. Meine Mitschüler laufen danach immer
ganz schnell weg, als ob sie etwas Böses getan haben und
nicht erwischt werden wollen. - Die Eltern kommen nicht,
sie haben sicher Angst, das Falsche zu sagen. Kann man das
denn? Wenn man nicht die richtigen Worte findet, dann doch
sicher auch nicht die falschen. Und darum geht es doch
auch nicht! Die Augen sprechen doch genug, wenn man einem
sagen will: Herzliches Beileid. – Ich mag das Wort übrigens
genauso wenig wie TOD. Bei-Leid - heißt das, dass das
LEID BEI denen ist, die trauern? Aber die müssen MICH
doch „bei-leiden“. Ich bin doch weg. Sie dürfen
schließlich noch bleiben. Ich finde das so richtig
unlogisch. Aber so ging es mir schon immer mit komischen
Ausdrucken.
*………………………………………
Bei
uns zu Hause ging immer alles um Gefühle. Wir sollten
immer alles leben. Ob Wut, Einsamkeit, Trauer, Eifersucht
oder anderes. Gefühle sind innen. „Außen vergeht!“
sagte Oma immer. Und weil innen nicht vergeht, soll man
das Innen pflegen. Vertrauen, Achtung, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit
und Anstand - das waren für Mama und Papa die wichtigsten
Tugenden. Wie oft habe ich gedacht, ich würde diesen
Scheißkrieg in meinem Körper nicht mehr aushalten. Da
bekämpfen sich Zellen untereinander - und ich kann nichts
tun. Kopf gegen Körper. Und dabei hängen sie doch wie
siamesische Zwillinge zusammen und bilden eine Einheit.
Scheißkrieg! - Aber dann waren da alle um mich herum,
voll mit schönen Tugenden. Durch ihre Geduld wuchs meine
Geduld. - Durch ihre Stärke meine Stärke; und die
brauchte ich ja für meinen langen Krankheitsweg. Und weil
ich ja bis zum Schluss noch dachte, wenn ich innen heil
bin, dann werde ich es außen auch wieder. Obwohl MUKKI ja
innen ist, gehört er aber eher zum Außen. Ich dachte
manchmal schon, ich denke vielleicht viel zu viel und zu
kompliziert.
Wenn
ich kranke Kinder auf der Erde beobachte, werde ich
manchmal sehr nachdenklich: „Archibald, warum gehen die
Menschen weg von einem, wenn man außen nicht mehr so wie
innen ist?“ Und weil Archibald ja immer auf alles eine
Antwort hat, erklärte er: „Weil sie nicht mit dem
Herzen sehen. Würden sie das tun, würden sie nur nach
innen sehen. Denke an „Der kleine Prinz“, den du
gelesen hast. Ich habe dich dabei beobachtet. Und auch,
wie du mit Klara über den Fuchs, die Rose und das Zähmen
gesprochen hast.“
*…………………………………………..
Ich
werde also tatsächlich ein Schutzengel sein? Ob ich mir
aussuchen kann, wen ich beschützen darf? Wenn ich
„Schutzengel“ werde, werde ich also neu gemacht. Ein
bisschen wie geboren-werden, nur viiiiiiel heiliger
wahrscheinlich. Und die Verbindung zur Erde bricht
auch nicht ab. Der Himmel braucht die Erde und die Erde
braucht den Himmel.
Am
liebsten möchte ich rund um die Uhr für meine Familie
und für Klara da sein. Besonders Jessi wird mich noch oft
da unten brauchen. Ich werde sie nicht enttäuschen. Aber
solange ich noch nicht alles gelernt habe, wird diese
Aufgabe ein anderer für mich übernehmen.
Das
ist wirklich himmlisch - hier oben gibt es nichts, wodurch
man sich unterscheiden muss, nichts von dem ist wichtig,
worüber die Menschen auf der Erde sich streiten und
bekriegen müssen. Ist es nicht eigentlich so, dass
Menschen sich doch eigentlich nur durch Kleinigkeiten
unterscheiden? Kleinigkeiten, im Vergleich zu dem Großen,
dem sich niemand entziehen kann: dem Geschenk des Anfangs
- der Geburt mit der gewissen Unruhe - und dem Geschenk
des Endes, dem Tod und seiner gewissen himmlischen Ruhe.
Beim ersten Schritt wird dir geholfen, beim letzten nicht.
Jeder geht zweimal im Leben durch einen Tunnel. Die Geburt
führt dich heraus und der Tod führt dich herein.
*
Hier
trage ich keine Kleidung, um die mich ein anderer
beneidet. Ich fahre kein Fahrrad, das mir ein anderer
stehlen kann. Und ich habe keinen Hunger, wie so viele auf
der Erde. Hier oben sind eigentlich alle so gleich, wie
Menschen auf der Erde niemals sein wollen. Wie sagt
Archibald immer? „Oben herrschen oft andere Gesetze als
Unten, auch wenn sich hier alle nach den Geboten richten.
Nur wenige Erdenmenschen verstehen aber diese „hohen“
Gesetze. Sie sind Auserwählte. Sie bleiben auf der Erde
so lange, bis ihre Aufgabe erfüllt ist. Man erkennt diese
Menschen daran, dass sie nur für andere da sind, ohne
sich selbst dabei all zu sehr zu vergessen. Sie teilen
anderen ganz viele weise und kluge Dinge mit, um ihnen
neue Gedanken zu geben. Wer so einem Menschen begegnet,
der ist auf einen Engel in Menschengestalt getroffen.
Wahrscheinlich war es einer von uns hier. - Gott kann eben
alles möglich machen, weil er all-mächtig ist! Leider
sind diese Begegnungen meist nur einmalig. Und manchmal
auch nur so kurz wie ein einziger Augenblick. Und wer so
eine ganz besondere Begegnung nicht wahrgenommen oder
verstanden hat, der hat leider Pech gehabt. Zweimal so
einem „Menschenengel“ zu begegnen, grenzt wieder an
ein Wunder. Aber auch das machen wir natürlich manchmal möglich.“
*
Vielleicht
ist das so auch mit dem Leben: Man hat mit ihm tatsächlich
nur eine Verabredung. Und jede Verabredung ist zeitlich
begrenzt. Man sagt „guten Tag“ und dann „auf
Wiedersehen“. Auf Wieder-Sehen im Himmel. Verabredet bin
ich jetzt eben mit jemand anderem: mit dem Tod. Und mit
Gott. Und mit seinen Engeln. Und mit mir selbst; mit
einer, die ich niemals verlassen kann, weil ich ja noch
Seele bin, die nicht kaputtgehen kann. Und zeitlich
begrenzt bin ich auch nicht mehr.
………………………………
Und
glaubst du, dass Seelen nur im Himmel sind?“
„Also,
mein Schatz – es gibt nur einen Himmel, nur einen großen
Raum für alle Seelen dieser Welt. Und ob Seelen auch
woanders sein können als nur im Himmel, davon gehe ich
aus. Aber irgendwo müssen sie sich ja alle sammeln können.
Ich denke, der Himmel ist die Heimat.“
„Glaubst
du, mir wachsen Flügel?“
„Ganz
bestimmt, Liebling. Warum sieht man sonst auf Bildern
immer Engel mit Flügeln?“
„Können
Engel auch kaputt gehen“? fragte ich abschließend.
„Ja,
wenn man aufhört, an sie zu glauben!“
Wirkliche
Flügel habe ich natürlich nicht, auch wenn ich zur Erde
„fliegen“ kann. Natürlich ist es meine Seele, mein
Geist, der dank Schwingungen quasi auf die Erde schwebt.
Deshalb kann man uns ja auch nicht sehen, sondern nur spüren;
und auch nur, wenn man sehr wachsam ist. Und deshalb
werden Engel wohl immer mit Flügeln gezeichnet; sie
sollen den Menschen zeigen, dass Engel eben immer und überall
hinschweben können. Das gibt einem doch ein fast
himmlisches Gefühl.
*
Ich
habe sehr viele Sterne umarmt, bin auf fast jede Wolke
gesprungen, und habe in Petrusstadt mein neues Zuhause
gefunden. Ich werde meine neue Heimat nie wieder
verlassen; abgesehen von meinen Ausflügen als
Schutzengel. Wenn Ihr Erdenkinder diese Zeilen lest,
bereite ich vielleicht gerade meinen ersten Ausflug vor.
Ich will kein Mitleid. Ich existiere ja noch. Ich kann
euch sehen, auch wenn ich für euch nicht sichtbar bin.
Sobald eure kleine Seele ihre himmlische Reise zu uns ankündigt,
werde ich sie empfangen. Habt keine Angst, ich werde da
sein. Und Jeder wird eines Tages hierher kommen. Und jeder
Einzelne ist zu jeder Zeit immer herzlich
WILLKOMMEN
IM HIMMEL!!!
Und
bis es so weit ist, unterscheidet uns nur die Luft zum
Atmen, die Ihr braucht. Ich aber nicht mehr.
*
Frannys
letzte Worte an ihre Eltern - aufgenommen wenige Wochen
vor ihrem Tod - auf Tonband, hatte sie unter ihrem Lamm
Bruno versteckt. Ein Zettelchen lag dabei, adressiert an
Klara; die eingerahmte Kleeblattsammlung für Jessi war
dahinter gegen die Wand gelehnt.
Gegen
220h40 war Frannys Mama auf dem Weg in die Küche und warf
wie immer einen Blick in Frannys Zimmer. Ihr Blick fiel
auf den Glasrahmen. Mama blieb wie angewurzelt stehen.
Dann schlich sie sich leise näher.
Franny
hatte zum letzten Mal ihre Augen mit aller Kraft geöffnet.
Mama riss Augen und Mund sperrangelweit auf. Es sah aus,
als versage ihre Stimme beim Schrei nach Frannys Papa.
Frannys Augen gaben Zeichen, es nicht zu tun. So saß Mama
am Kopfende von Frannys Bett und streichelte dessen Kopf.
– Es war wie ein Pakt zwischen Mutter und Tochter. Wie
bei der Geburt. Nun beim Tod. Was mit einem Wehenschrei
begann, endete mit einem Ruf der Stille.
Um
22h48 schlief Franny für immer ein. Am Sonntag, den 17.
Juni; genau so, wie es ihr Wunsch gewesen war. Am Tag des
schönen Familienausflugs. Den 16. Geburtstag hatte sie
nicht mehr erlebt. Aber den 17. Juni. – An dem Tag
brannten im Zimmer genau 99 Kerzen. So war es ihr Wunsch
gewesen, weil sei gelesen hatte, dass man zwei Dinge tun
sollte, wenn ein Mensch für immer geht: Fenster auf und
Kerzen an. Und das 100. Licht wollte sie sein. Millionen
von Kilometern entfernt. Aber doch strahlend sichtbar.
*
„Bitte
weint nicht ständig, wenn ich gegangen bin. Gott
hatte einen Willen, und dem musste ich nachkommen. Ich weiß,
dass ihr mich gar nicht gehen lassen wollt, aber –
stellt euch mal ein Seil vor. An einem Ende zieht der
Himmel, am anderen die Erde. Bitte lasst das Seil los,
damit das Gehen nicht so schwer ist. Ich habe doch keine
Wahl. Ich reise da oben jetzt hin, und ihr schaut ab
sofort einfach nach oben, statt in mein Kinderzimmer. Habt
ihr eine Reise jemals abgebrochen? Lasst mich gehen. Ich
liebe euch, von überall her. Ich war nur kurz ein Teil
der Erde – und werde, genau wie ihr, immer ein Teil
dieser Welt bleiben. Und Jesse – du wächst einfach für
mich weiter, ja? Ich bin ja in dir drin, weil du an mich
denkst. Wir kommen beide aus demselben Bauch, und eines
Tages werden wir wieder in dem größten Bauch der Welt,
dem Himmel, zusammen sein. Und Klara soll dir immer schön
vorlesen aus meinen Lieblingsbüchern „Anna / Löwenherz
/ kleiner Prinz“: ‚Wenn du bei Nacht den Himmel
anschaust, wird es dir sein, als leuchten alle Sterne,
weil ich auf einem von ihnen lache. Du allein wirst Sterne
haben, die lachen können. Und wenn du dich getröstet
hast, wirst du froh sein, mich gekannt zu haben… und
deine Freunde werden sehr erstaunt sein, wenn du den
Himmel anblickst und lachst.’ – Schön, nicht wahr,
Jessi?“
Die
wenigen Worte auf dem Zettelchen für Klara waren kaum
noch zu entziffern, so zitterig war die Schrift, und Tränen
hatten Worte aufgeweicht und fast unleserlich gemacht. Ein
paar Buchstaben fehlten. „Du wist immer min Feund
sein“, sagte der kl. Pr.. „Du wirs Lust habe, mit mir
zu lachen. U. du wirst manchma dein Fenster öffen, gerade
so, z. Vergnügen“. Mein(e) Prinz(essin), Klara -
vergiss die Gebete nicht, die du mir verspr. has! Deine
gezähmte Rose, dein Fuchs, deine beste Freundin. Und viel
längr, als der Tod uns wirkl. scheide kann. *F*
Frannys Lieblingszitate zum Tod /
Sterben:
„O
Tod, wie wohl tust du dem Dürftigen!“
„Ist
der Tod nur ein Schlaf, kann dich das Sterben erschrecken?
Hast du es je gespürt, wenn du des Abends
entschliefest?“
„Am
Anfang wandern wir durch Licht und Schatten. Am Ende nur
durch Licht.“
„Der
Tod ist nichts Schreckliches. Nur die fürchterliche
Vorstellung vom Tod macht ihn furchtbar.“
„Des
Todes Schmerz liegt nur in der Vorstellung.“
Frannys
Lieblingsfilm:
„Brüder Löwenherz“
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